100 Kilo Herz und "Zurück nach Hause": Von Wut und Licht
04.09.2023 | Frank Diedrichs
Bereits auf den vergangenen Alben haben es 100 Kilo Herz gekonnt verstanden, ihren als „Brass Punk“ selbst betitelten Musikstil mit pointierten, treffenden Texten zu koppeln, die von gesellschaftlich-politischen Missständen und menschlichen Lebenswelten erzählen.
Umrahmt wird das aktuelle Album von den Liedern „Lichter aus“ und „Lichter an“. Ersteres greift erneut das Thema Alkoholmissbrauch auf, welches den Hörer*innen beispielsweise im Lied „Tresenfrist“ des Albums „Stadt Land Flucht“ aufgezeigt wurde. Alkohol ist in Deutschland leider zu einer Art legalem Medikament geworden, dass sich jeder Mensch problemlos verschreiben kann, um zu vergessen und sich das Licht auszuknipsen.
Die erste Hälfte des Albums greift aktuelle gesellschaftliche Themen auf. Pflegenotstand („Station 30“), häusliche Gewalt („Eine Hölle in Pastell“) oder das Erstarken der Rechten („Keine Zeit für Angst“), die Band findet klare politische Worte, formuliert bedrückende Innensichten und fordert zum Aufstehen und Entgegentreten auf. Besonders der Song „Das richtige Wort“ prangert ein System an, in dem die Medien als „Vierte Gewalt“ nicht in der Lage waren, die Tode von vier Menschen mit Beeinträchtigungen in einer Potsdamer Pflegeeinrichtung als zu bezeichnen, was sie waren: Mord. Und hier sehen sich die Musiker besonders gefordert, indem sie mit ihrer Musik ihre Wut und Betroffenheit hinaustragen können, um Menschen die kaputten Strukturen vieler gesellschaftlicher Bereiche aufzuzeigen.
Die zweite Hälfte ist emotionaler, persönlicher und richtet den Blick auf das Innenleben. Es geht nicht immer um die eigenen Erlebnisse, sondern generell um das, was in Menschen vorgeht, sie beschäftigt, aufbaut oder zerstört. „2694 Tage“ zeichnet eine Hommage an einen vierbeinigen, treuen Freund und hier gelingt es 100 Kilo Herz, ein gefühlvolles Stück voller Erinnerungen und Verlust zu schaffen. Der Song „Spiegel“ wiederum führt vor Augen, dass Selbstaufgabe und das Fokussieren auf die Bedürfnisse anderer nur dazu führen, sich selbst zu verlieren. Aber die Band ist nicht nur in negativer Emotionalität unterwegs. „Alleine leuchten“ verdeutlicht eindrucksvoll, dass Zusammenleben zwar ein Miteinander ist, aber jeder Mensch auch allein strahlen soll und darf, ohne in seiner inneren Leuchtkraft von anderen Menschen abhängig zu sein.
Der das Album abschließende Track „Lichter an“ lässt Raum zur Interpretation – ist es Burnout oder das Fehlen jeglicher Motivation, sich aufzuraffen, nachdem die Hörenden 36 Minuten lang schonungslos mit menschlichen und gesellschaftlichen Schwachstellen konfrontiert wurden? Jede:r Zuhörer:in wird sich am Ende auf eigene Weise wiederfinden und grübelnd aus dem Album entlassen.
Mit Amy von Kopfecho („Hölle in Pastell“) und Nicholas Müller von Jupiter Jones („Keine Zeit für Angst“) haben sich die sechs Bandmitglieder auch dieses Mal Gäste zur gesanglichen Unterstützung ins Studio geladen. Der Sound der Leipziger Band bleibt sich treu. Neben punk-rockigen Gitarren sticht der Bläsersound wieder heraus. Saxofon und Trompeten bilden teilweise fanfarenartige Passagen und die Drums treiben weiterhin die Lieder voran. Diese Einheit sorgt dafür, dass die Songs trotz aller gesellschaftskritischen Töne positiv wirken, gefeiert und getanzt werden wollen. Dafür sorgen unter anderem auch hymnische Sing-Along-Parts wie in „Keine Zeit für Angst“ oder die tanzwütigen Songs „Eine Hölle in Pastell“ oder „Und das nennt ihr dann Leben“.
Beim Songwriting des Texters und Sängers Rodi wurde im Vorfeld viel Wert auf „Sensitivity Reading"“ gelegt, um niemanden sprachlich zu verletzen und gendergerecht zu formulieren. Somit sind Texte entstanden, die alle Menschen ansprechen und widerspiegeln, aber dabei niemanden herabsetzen. Diese neue Sensibilität resultiert aus den Ereignissen des Jahres 2021, als ein Bandmitglied nach Vorwürfen von sexueller Übergriffigkeit und Machtmissbrauch die Band verließ.
Insgesamt ist mit „Zurück nach Hause“ ein Album entstanden, welches einen Bogen zum Debüt schlägt und durchaus als Abschluss einer Trilogie gelten kann. Das Cover und auch die Texte lassen aber berechtigte Zweifel zurück, ob dieses Zuhause noch lebenswert ist, beziehungsweise sich verändert hat, da 100 Kilo Herz immer noch dieselbe Gesellschaftskritik äußern müssen wie in der Vergangenheit.
Diskografie
2018: Weit weg von Zuhause
2020: Stadt Land Flucht
2023: Akustisch im Gewandhaus
Wertung
Wieder einmal schaffen es 100 Kilo Herz mich nicht nur mit ihrer Musik, sondern auch mit ihren Texten zu fesseln. Politisch, (auto-)biografisch, pointiert und in einer Klarheit formuliert, die leider in unserer Gesellschaft immer noch nötig ist. Sie liefern berechtigte Gesellschaftskritik und emotionale Krisen, die ich erschreckenderweise immer irgendwie mit Menschen aus meinem Umfeld oder sogar mit mir assoziieren kann. Der gewohnt starke Sound ihres Brasspunk mit den klassischen Blasinstrumenten und den punkigen Gitarren sorgt auch in der Homedisco für Tanz- und Hüpfeinlagen. Ein Album zum Aufdrehen und Abdrehen!
Frank Diedrichs
Frank lebt seit über zwanzig Jahren in der Mitte Niedersachsens und unterrichtet Kinder und Jugendliche an einer Oberschule. Nach seiner musikalischen Erstprägung durch die Toten Hosen und Abstürzenden Brieftauben erweiterte er seine Hörgewohnheiten: Folkpunk, Singer-/Songwriter, Blues, Deutschpunk, US-/UK-Punk. Dabei kommt von Johnny Cash über The Beatles und Pascow bis hin zu Marvin Gaye eine Menge Vielfalt aus den Boxen, am liebsten als Vinyl.