Unter dem Radar #9: Finte
22.01.2019 | Jakob Uhlig
Gründung: 2014
Heimatstadt: Hildesheim
Genre: Progressive, Math-Core, Post-Hardcore
Bisher veröffentlicht: „Ignoranz und Illusion“ (EP)
Für Fans von: The Hirsch Effekt, Periphery, Kora Winter
Die Debüt-EP von Finte trägt den Titel „Ignoranz und Illusion“. Der darauf enthaltene Opener „Helios“ sorgt gleich für das gedankliche Chaos, das der Name des übergreifenden Werks verspricht. Der Song erzählt im für die Verhältnisse des Hildesheimer Quintetts auffällig leichtfüßigen Gewand, wie der titelgebende Sonnengott erdrückende Traurigkeit zu vertreiben weiß und dabei sogar Tote wieder zum Leben erwecken kann. Im Kontext der noch folgenden, sehr martialisch-düster gehaltenen drei Songs wirkt „Helios“ dabei fast wie aus einer anderen Welt gegriffen, wie eine andere Lebensrealität, die sich fernab von Fintes üblichen Erzählebenen abspielt. Gerade mit der in der realen Welt unmöglichen Metapher der Wiedergeburt wirkt der Song wie das Ergebnis traumatischer Verdrängung. Tritt der Protagonist des Textes tatsächlich in eine kathartische Lebensphase ein? Oder steckt er in Wahrheit noch immer in der beständig angedeuteten dramatischen Situation, und versucht nur, sich innerlich verzweifelt davon abzugrenzen?
Fintes Gitarristen Chris und Timur müssen ein wenig schmunzeln, als sie diese Interpretation ihres Werks hören. „Unser Sänger Steffen hat den Text geschrieben“, erklärt Timur. „Eigentlich war der Gedanke dahinter vor allem, zwischen all unseren negativen Songs mal einen positiven Text zu schreiben.“ „Helios“ beschreibt also eigentlich auf einer wesentlich grundlegenderen Ebene, birgt dabei aber genug Offenheit, um eigene Fragen an die Lyrik stellen zu können. In diesem Fall mag das textliche Verwirrspiel nicht intendiert gewesen sein, dennoch demonstriert der Opener von „Ignoranz und Illusion“ sehr deutlich, wie die Musik von Finte funktioniert. Die Band schildert Perspektiven und paraphrasiert Problemstellungen, aber sie verurteilt niemanden, der diese einer anderen Lesart unterzieht. Im Gegenteil ist die bewusst offene Haltung sogar eindeutiger Teil des Konzepts. Das Spiel mit der Illusion findet gewissermaßen auf mehreren Ebenen statt.
Während Timur und Chris über ihre Band reden, wirken sie dagegen alles andere als beirrt. Das Gespräch findet in einem abgeschiedenen Aufenthaltsraum, ein Stockwerk über dem noch rege besuchten Club Hanseat in Salzwedel statt, in dem Finte gerade ein gemeinsames Konzert mit Kora Winter und Donnokov gespielt haben. Von dem lauten Treiben des Untergeschosses ist nichts zu hören und abgesehen von ein paar Unterbrechungen durch Equipment tragende Mitarbeiter des Clubs bietet diese Umgebung Platz, um seine Gedanken klar zu formen. „Es ist aktuell ein großer gesellschaftlicher Trend, dass wir alle aneinander vorbeireden“, kommentiert Chris pragmatisch den Stand einer von immer mehr Verwirrung geprägten Welt. „Deswegen ist es wichtig, dass wir Räume schaffen, um miteinander in den Dialog zu treten. Wir wollen keine Zeigefinger-Mentalität an den Tag legen, sondern unsere Songs eher als Beobachtungen formulieren.“ Mit alltäglichen Illusionen zu kämpfen ist ein kompliziertes Unterfangen voller Ungewissheit, gerade dann, wenn sie in Kombination mit ignoranter Haltung das Durchdringen in die Realität noch schwieriger machen. Damit umzugehen ist nicht leicht – vor allem, wenn man realistischerweise akzeptiert, dass die eigenen Ansichten auch nicht immer den Anspruch auf Allgemeingültigkeit haben können. „Wenn wir von Ignoranz und Illusion sprechen, dann sind wir keine außenstehenden Beobachter“, erklärt Timur seine Haltung. „Vielmehr reflektieren wir Themen so, wie sie uns beschäftigen.“
Den Umgang mit ihrer Band scheinen Finte dagegen – vielleicht auch als Gegenreaktionen auf all die Widrigkeiten, mit denen sie sich beschäftigen – sehr stringent zu fahren. Dabei könnte man dies anhand der bloßen Daten gar nicht unbedingt vermuten. „Ignoranz und Illusion“ erscheint im April 2018, Finte gibt es zu diesem Zeitpunkt bereits vier Jahre. Die Findungsphase der Band wird dabei von einigen Hürden gebremst. Mehrere Bandmitglieder legen Auslandsaufenthalte ein, Umzüge machen das konsequente Arbeiten an der eigenen Identität schwer. Mehrere Teile von Finte wohnen noch immer in anderen Städten, Gitarrist Chris fährt etwa fast jedes Wochenende von Bremen in den Band-Proberaum in Hildesheim. Dass das Quintett trotz alledem am Ball bleibt, spricht deutlich für die Leidenschaft, mit der die fünf ihr Projekt angehen. Auch in Phasen der Trennung wird die Band nicht zur Nebensächlichkeit. „Wir zehren immer noch von den musikalischen Ideen, die Chris und Marvin in ihren Auslandssemestern hatten“, erklärt Timur grinsend. Musikalisch starten Finte zunächst instrumental und siedeln sich eher im Post-Rock an. Erst als Frontmann Steffen dazustößt, findet das Quintett zu seiner jetzigen Mischung aus progressivem Post-Hardcore mit Math-Rock-Anleihen. Mit Sänger in der Formation müssen Finte zunächst lernen, der neu dazugestoßenen Komponente musikalisch Platz zu lassen. Der Findungsprozess zieht sich, aber er schreitet stetig voran, bis die vier Songs auf „Ignoranz und Illusion“ das erste Kapitel der Bandgeschichte zu Ende bringen.
In ihrem kontinuierlichen Vorwärtskommen zeigt sich eine weitere Perspektive, die Finte auf das in ihrem EP-Titel benannte Thema haben. Timur sieht das Unbekannte in seinem Horizont nicht als undurchdringbaren blinden Fleck, sondern als die Chance, noch Neues zu entdecken: „Wenn man einer kleinen Verästelung auf die Spur kommt, tun sich plötzlich zigtausend neue auf und man merkt erst, was alles dahintersteckt. Jeder Schritt, in dem man einen Wissensgewinn hat, zeigt einem auf, wovon man noch keine Ahnung hatte. Auch als Band haben wir während dieses EP-Prozesses erst gemerkt, was bei uns alles geht.“ Eine erfrischend optimistische Sicht auf ein vertracktes Gewinde der Selbstfindung und inneren Entwicklung – und gleichzeitig eine Betrachtung, die mit den oftmals sehr düsteren Bestandsaufnahmen von „Ignoranz und Illusion“ zu kontrastieren scheint. „Eine Ebene, auf der ich unseren Song ‚Norwich‘ lese, ist die einer Person, die an Depressionen leidet“, erläutert Chris. „Sie hat Stimmen in ihrem Kopf, von denen sie nicht genau weiß, ob sie real sind. Und die haben nicht nur depressive Menschen. Jeder von uns hat eine solche soziale Konstruktion der Realität.“
Ob es bei all diesen illusorischen Strömungen überhaupt Sinn macht, jemandem die eigene Perspektive aufzuzeigen? „Ich habe in meinem Denken lieber die Möglichkeit, Menschen von Illusionen abzubringen, als es gar nicht erst zu versuchen“, kommentiert Timur. „Oft ist es ja schon viel wert, wenn man einfach nur Denkanstöße und vielleicht einen neuen Funken gibt, mit dem jemand dann weiterdenken kann.“ „Meinem Gesellschaftsbild entspricht es auch, dass man sich erstmal fragen sollte, warum Menschen überhaupt in einer Ignoranz leben“, führt Chris weiter aus. „Was ist deren persönliche Geschichte, und was ist der außenstehende Kontext? Gesellschaftsphänomene wie das Auseinanderdriften Amerikas sind ja große Prozesse, die weit über die Einzelperson hinausgehen. Deswegen kann man auch nicht pauschal sagen, dass gewisse Leute einfach verloren sind. Ich glaube, dass es in den meisten Fällen möglich ist, über Gespräche zumindest wieder einen Faden zu finden. Dass muss auch nicht heißen, dass man die Meinung einer Person ändern muss, aber zumindest, dass man ihre Perspektive nachvollziehen kann.“
Klar ist bei Finte derweil nur, dass ihr Projekt auch nach „Ignoranz und Illusion“ musikalisch voranschreiten soll. Gerade befindet sich die Band in der Vorproduktion neuer Songs, für die es noch keinen klar konzipierten Plan gibt. Ob aus ihnen schlussendlich eine weitere EP, ein Album oder überhaupt nichts entstehen wird, ist aktuell noch völlig ungeklärt – diese Perspektiven will sich die Band bewusst offenhalten. Vielleicht tut es gut, Lösungen nicht immer vorzuplanen. Schließlich zeigt das konfliktgeplagte „Norwich“, das die „Ignoranz und Illusion“-EP beendet, wie verwirrend unser Dasein manchmal sein kann. Zur Krönung seiner hin- und hergerissenen Lyrik ufert der Song in einem dramatischen Instrumental aus, das in einem betont unverbindlichem Halbschluss endet. Eine Antwort liefert der Song damit nicht – aber wohl den prägnantesten Kommentar, den es geben kann.
Jakob Uhlig
Jakob kommt aus dem hohen Norden und studiert zur Zeit historische Musikwissenschaft. Bei Album der Woche ist er, neben seiner Tätigkeit als Schreiberling, auch für die Qualitätskontrolle zuständig. Musikalisch liebt er alles von Wiener Klassik bis Deathcore, seine musikalische Heimat wird aber immer die Rockmusik in all ihren Facetten bleiben.