Silverstein und „Misery Made Me“: Zurück zu allem
29.04.2022 | Dave Mante
Bewegt man sich in den weiten Gefilden des (Emo-)Post-Hardcore, so stößt man sehr schnell auf Silverstein aus Burlington, Kanada. Mit ihrem kurzen Ausrutscher „A Beautiful Place to Drown“, welcher sich eher schlecht als recht in Richtung Alternative Rock erstreckte, schlägt die Band nun mit „Misery Made Me“ mehr als kraftvoll zurück und released mal eben das mit beste Album ihrer über zwanzigjährigen Bandgeschichte.
Nun fällt es wirklich schwer, in diesem eher kurzen Text die richtigen Worte zu finden und auch ja nichts außer acht zu lassen. Die vorab veröffentlichten Singles „Bankrupt“ und „It‘s over“ zeugten davon, dass Silverstein zu ihrem älteren Sound zurückkehren. Die Erwartungen gingen dabei eher in Richtung eines stringenten Post-Hardcore Albums, welches zwar gut wird, aber eher wie gedrungene Reminiszenz wirken könnte. Und wie falsch diese Annahme war, ist bereits in den ersten beiden Songs zu merken. Mit „Our Song“ und „Die Alone“ bietet die Band um Shane Told direkt ein paar der schnellsten Songs seit mehr als zehn Jahren ihrer eigenen Bandgeschichte, zweiteren möchte ich sogar als den wohl härtesten dieser betiteln, was ebenfalls durch die Zusammenarbeit mit Andrew Neufeld von Comeback Kid kommt. Ab hier erreicht „Misery Made Me“ aufeinanderfolgend neue Höhepunkte, egal ob in den eher ruhigen Tracks wie „Cold Blood“, pompösen Instrumental Porns wie „Don‘t Wait Up“ oder einer reinen Akustikballade wie „Misery“. Immer wieder kommt die Gruppe mit einem anderen Kniff, einer neuen Überraschung, einer ganz eigenen Idee daher und führt diese perfekt zum Gesamtwerk.
Der eindeutige Höhepunkt dieser in sich geschlossenen kreativen Ideenfindung und Abwechslung ist der Song „The Altar/Mary“. Ab der ersten Sekunde schreit uns Shane Told seine unbändige Wut in die Ohren. Es folgen Breakdown Riffs, diverse Vocal-Techniken und vor allem geballte Silverstein-Härte aus Tagen von „Arrival and Depatures“ und dann gibt es einen Break. Gitarrensolo im Hintergrund, melodischer Gesang und ein paar leichte Effekte auf der Stimme. Unerwarteter Bruch ohne Ankündigung, welcher allerdings nur als Atempause dient, wie auf einer Achterbahn, kurz bevor man 40 Meter tief fällt. Diese Verschnaufpause endet mit einem schrillen Schrei und den bereits erwähnten Riffs, welche nun noch härter sind. Der Wahnsinn scheint kein Ende zu nehmen. Dann kommt der Switch. Aus der Gitarre wird eine Art Synthie-Harmonium und aus dem Geschrei wird hallender Gesang. Da die Phrase des Gänsehautmomentes zu ambivalent verwendet wird, benutze ich sie eher selten, allerdings ist dies hiermit mehr als gut beschrieben. Dieser Switch ist eines der besten Dinge, die in den letzten fünf Jahren in der Post-Hardcore Welt passiert sind!
Und so setzt sich dieses Album bis zum Ende fort, hinter jeder Ecke wartet etwas anderes. Hier ein Switch, dort ein Breakdown, kurz nachdem wunderbar melodiöse 20 Sekunden als Beruhigungspille eingeworfen wurden. „Misery Made Me“ ist ein Abenteuer und mit „This is How the Wind Shifts“ das wohl beste Album der Kanadier. Chapeau und viel Applaus.
So perfekt, wie es klingt, ist es an sich auch, ich nutze hier aber kurz die letzten paar Worte, um die nur fast perfekte Wertung etwas mehr zu erklären. Denn dieses Gefühl der Perfektion stellte sich schon einmal ein, nämlich beim ersten Durchlauf vom genannten „This is How the Wind Shifts“. Dieses Album überrascht ebenfalls, spielt mit Erwartungen und presst geballte Kreativität in seine knapp 40 Minuten Spielzeit. Da „Misery Made Me“ hier eher eine schöne Erinnerung hervorruft, welche eben an die Scheibe von 2013 anknüpft, bekommt es keine volle Punktzahl. Allerdings ist dies auch mit vollem Wissen über den Rest der Diskografie geschrieben, so oder so sollte jeder, der auch nur ansatzweise etwas mit dem Genre anfangen kann, dieses Album hören!
Wertung
Silverstein machen auf „Misery Made Me“ absolut alles richtig. Abwechslung, Härte, Ruhe, Kreativität und weiteres werden zu einem Konstrukt der Perfektion vereint, welches noch lange und oft in meinem Kopf schwirren wird. Post-Hardcore hat einen neuen Genreklassiker und er kommt erneut von dieser Band. Für die volle Punktzahl reicht es aber nicht, da dieses letzte bisschen Eigenheit und Gefühl des Abstandes zu „This is How the Wind Shifts“ fehlt. Betrachtet man es jedoch komplett ohne den Rest der Diskografie, so ist dieses Album eine reine 10/10.
Dave Mante
Aufgewachsen zwischen Rosenstolz und den Beatles hört sich Dave mittlerweile durch die halbe Musikwelt, egal ob brettharter Hardcore, rotziger Deutschpunk, emotionaler Indie oder ungewöhnlicher Hip Hop, irgendwas findet sich immer in seinen Playlisten. Nebenbei studiert er Kunstgeschichte, schlägt sich die Nächte als Barkeeper um die Ohren oder verflucht Lightroom, wenn er das gerade fotografierte Konzert aufarbeitet.