Die Netten Jungs Von Nebenan und "Danke, reicht": Schicksalhaftes Debüt
01.09.2024 | Frank Diedrichs
2017 erschienen mit „Drei Songs sind keine EP“ erste Songs, die bereits die musikalische Richtung vorgaben: Deutschpunk mit Bläsern, der zwischen Ska und Hardcore mäandern kann, nie muss, aber immer will.
Nach dem Ausstieg von Gründungsmitglied Phillip Dohmen formierte sich die Band neu, Flo Mayer stieg am Schlagzeug ein und innerhalb der Stammbesetzung wechselten Gesang und Instrumente. Der Umbruch wurde als Startsignal für den ersten Longplayer genutzt. Fast zwei Jahre lang zogen sich die Prozesse des Schreibens und der Produktion hin, finanziert durch ein Crowdfunding. Und sieben Videos gaben einen textlichen musikalischen Vorgeschmack auf das Album.
Der Tod Flo Mayers im Juni 2024 erschütterte Familie, Freundeskreis und Band. Doch der Wunsch des Schlagzeugers, dass die Band weitermacht, dass sie das Release weiterverfolgt, mobilisierte emotionale Kräfte.
Die Texte des Albums verweben Ironie mit Nachdenklichkeit und politisch-gesellschaftlichen Statements. „Danke, reicht“ beginnt mit einem kurzen Intro und der Frage: „Was ist eigentlich Kunst?“. Die Antwort folgt auf dem Fuß. „Kunst“ schleudert das Kunstklischee durch die Trommel und wirft den Seidenschaltragenden die Antwort vor die Füße. Es folgt die Hommage an „Unna“, die zum Ausdruck bringt, dass unsere materiellen oder auch finanziellen Erfolge nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir Sehnsuchtsorte in uns tragen. Die Frage nach der Hoffnung, die Klimaveränderungen noch zu einem gewissen Grad einzudämmen, beantwortet die Band in „Chance“ mit der treffenden Zeile „Das Menschsein scheitert am Menschsein“. Und dennoch ist aufgeben keine Option. Das herrliche beschwingte „MIWIDOP“ kreiert eine Ode an das Musikmachen, an den Krach, den Instrumente erzeugen und das Gefühl des Glücks, stellt dem aber auch den Anspruch der Gesellschaft gegenüber. „Keine Zeit“ ist eines jener Stücke, deren Nachdenklichkeit im krassen Gegensatz zur Musik stehen. Vorantreibender Bläserpunk lädt zum Mitsingen ein, aber der Inhalt hinterlässt doch ein flaues Gefühl im Bauch. Es geht um all die verpassten Chancen und unerledigten Dinge, die ungesagt und ungetan sind, wenn der Tod uns plötzlich aus dem Leben reißt. Mit „GroßKlein“ folgt nicht nur textlich der Schlag in die Fresse. Mit Wut schleudern Sänger Eric und Tobias uns ihr Unverständnis für „[den] älteste[n] weiße[n] Mann“. Es bleibt dem Hörenden überlassen, sich hier Donald Trump vorzustellen, ebenso wie in „Lauf“ durchaus Putin gemeint sein könnte, wenn „ein narzisstischer Faschist in andere Länder einmarschiert“. Dystopisch geht es in „Endzeit“ weiter, Regierungen brechen zusammen und alle fallen übereinander her. Aber auch hier ist neben all den Katastrophen, Aufgeben keine Option, vielmehr versteckt die Band in den Zeilen eine Ode an den Zusammenhalt. „Was ist das“ gelingt es von Liebe zu singen, ohne das Wort ein einziges Mal zu nennen. Auch die politische Einstellung von Die Netten Jungs Von Nebenan wird in ihren Texten deutlich. „Wölfe“ schafft das Kunststück, die Angst vor der Ausbreitung der Wölfe in Deutschland zu besingen, aber eigentlich die aggressiven Forderungen der Rechten nach Grenzkontrollen und Schusswaffengebrauch in Bezug auf die menschliche Migration zu meinen, wobei „Verloren“ unverblümt ein Statement gegen jegliche Form von Diskriminierung und Faschismus formuliert. Das Album schließt mit der Forderung den „Moment“ und die kleinen Dinge zu genießen und ihre Wichtigkeit zu erkennen.
Der Ska Punk mit seinen Bläser-Hooks ist der dominierende Musikstil. Saxofon und Trompete machen die Musik tanzbar. Punktypisch werden die verzerrten Gitarren eingesetzt. Auch wenn sich die Bläser wie ein roter Faden durch die Songs des Albums ziehen, driften die Musiker immer wieder in unterschiedliche Genres ab. Gerade die Songs, in denen die Wut auf gesellschaftliche und politische Entwicklungen deutlich wird („GroßKlein“, „Verloren“, „Wölfe“) mischen sich schnellere an Hardcore erinnernde Elemente unter, in der Regel begleitet von scheppernden Becken. Andere Songs erinnern wiederum an die Broilers („MIWIDOP“) oder Captain Planet („Was das ist“). DNJVN gelingt aber das Kunststück nicht wie musikalische Vorbilder zu klingen, sie kopieren nicht den Sound, sondern machen sich ihn zunutze und entwickeln durch die Kombination der Genres einen individuellen Stil. Dieser ist auch dadurch gekennzeichnet, dass jedem Song ein eigenes kurzes Intro vorangestellt wurde. Dabei sind es nicht nur Instrumente wie Akustikgitarre, Piano oder Schlagzeug, sondern auch Vogelstimmen oder Auszüge aus Interviews. Oft täuscht das Intro über den eigentlich Song hinweg, indem es beruhigend wirkt, bevor aber der Einsatz der Bläser, Drums und Gitarren, dieses Trugbild zerstört.
Das Debüt „Danke, reicht“ verdeutlicht bereits im Cover durch das überlaufende Weinglas, dass die Band anscheinend die Nase voll hat, von dem, was in ihrem Umfeld, in Deutschland, in der Welt und in den Medien geschieht. Verpackt dies aber in Songs, die mitgesungen werden, und die animieren, sich den Frust von der Seele zu pogen. Es gelingt ihr, Ernsthaftigkeit aufzugreifen, diese aber in treibende Songs zu verpacken, die Spaß machen, und denen mensch anmerkt, dass sie auch außerhalb des Bandlebens eng verbundene Freunde sind.
Wertung
Die Netten Jungs Von Nebenan zeigen mit ihrem Debüt „Danke, reicht“, welches sie ihrem kurz vor Release verstorbenem Schlagzeuger Flo gewidmet haben, dass nun auch mal genug ist mit dem ganzen Mist, den die Welt fabriziert. Ihre von Ironie über Wut bis Tiefgründigkeit reichenden, teils politischen Texte verpackt die Band in atemraubenden Punkrock, tanzbaren Bläserhymnen und einem Potpourri aus unterschiedlichen Musikstilen, die Spaß machen und mitgesungen werden wollen. Trotz aller Tragik, die das Release begleitet hat, stellt sich die Band mit erhobenem Mittelfinger dem Schicksal entgegen und sagt: „Danke, reicht“.
Frank Diedrichs
Frank lebt seit über zwanzig Jahren in der Mitte Niedersachsens und unterrichtet Kinder und Jugendliche an einer Oberschule. Nach seiner musikalischen Erstprägung durch die Toten Hosen und Abstürzenden Brieftauben erweiterte er seine Hörgewohnheiten: Folkpunk, Singer-/Songwriter, Blues, Deutschpunk, US-/UK-Punk. Dabei kommt von Johnny Cash über The Beatles und Pascow bis hin zu Marvin Gaye eine Menge Vielfalt aus den Boxen, am liebsten als Vinyl.