Jahresrücklick 2022: Steffen
26.12.2022 | Steffen Schindler
Album des Jahres
2022 gab es haufenweise neue Alben meiner Lieblingskünstler*innen: Tocotronic, Lande Hekt, Acht Eimer Hühnerherzen, Spiritualized, die Nerven, Shilpa Ray, die Düsseldorf Düsterboys, grim104, Casper, Zeal and Ardor und ich bin mir sicher, ich habe in dieser Aufzählung noch einige vergessen. Aber eigentlich stand für mich schon fast zu Anfang des Jahres fest, wer den Titel „Album des Jahres“ holen wird: Black Country, New Road veröffentlichten am 4. Februar „Ants From Up There“ und ließen mich damit komplett fassungslos zurück. Hatte ihr Debüt „For the first time“ schon jeden Musikpresse-Hype verdient gehabt, setzte der weniger als ein Jahr später veröffentlichte Nachfolger noch mal einen drauf. Die Musik ist konziser geworden, ohne die natürliche Weirdness und den chaotischen Charme der Band zu verlieren. Die symbolgeladenen Texte schaffen es, dem Album einen roten Faden zu geben. Und wer bei den letzten drei Songs, die alleine die Hälfte der Spielzeit einnehmen, nicht alle Gefühle auf einmal fühlt, muss innerlich schon längst tot sein. Dass Sänger und Gitarrist Isaac Wood noch vor der Veröffentlichung die Band verließ, macht aus dieser kraftvollen Stunde Musik ein einzigartiges Dokument. Das ist der Stoff, aus dem Kultalben werden.
Konzert des Jahres
Knapp 100 Leute fasst der Konzertraum im Keller des Kneipenkollektivs loge in Berlin Friedrichshain. Für den 5. April wird ein Konzert der Band Die Neffen dort angekündigt. Dass der Kneipenraum schon vor dem Einlass sehr gut gefüllt ist, deutet darauf hin, dass eher keine local heroes aus Reichenbach an der Fils auftreten werden. Unerwarteterweise (hähä) stellt sich das Konzert als secret gig der besten Live-Band Deutschlands heraus: Die Nerven spielen sich in einer Stunde durch ein Set, dessen Intensität durch das fast klaustrophobische Keller-Setting nochmal gesteigert wird. Und sie spielen nicht nur altbekanntes, sondern auch eine handvoll Songs, die später im Jahr auf einem neuen Album erscheinen würden, wie Schlagzeuger Kevin fast nebenbei verriet. Nochmal ein riesiges Danke an den lieben Menschen, der mich zu der Veranstaltung mitgenommen hat. Mir klingeln die Ohren immer noch ein bisschen.
Debütalbum des Jahres
Es folgt die nächste Aufzählung von Künstler*innen, die 2022 tolle Musik vorgelegt haben: Betterov, Wet Leg, Goldzilla, Anxious, Paula Hartmann und scheitern.dreitausend hätten alle den Titel verdient, aber ich habe leider habe ich laut Spotify Wrapped den Musikgeschmack eines 50-jährigen Spex-Snobs und deshalb klingt meine Wahl auch eher nach 1992 als 2022: Horsegirls Debütalbum „Versions of Modern Performance“ passt genau in die metaphorische Lücke, die sich im vergangenen Jahr in meinem metaphorischen Plattenregal zwischen Dinosaur Jr. und Sonic Youth aufgetan hat und schrammelte sich metaphorisch direkt in mein Herz. Das kann man altmodisch finden, aber Horsegirl sind dank ihrem Alternative-Nerdtum und ihrer DIY-Attitüde einfach unhatebar. Also ich wäre bereit für ein College-Rock-Revival.
Neuentdeckung des Jahres
Kann eine Band, die es seit 1995 nicht mehr gibt, eine Neuentdeckung sein? Egal. Ich habe im vergangenen Jahr wohl meinen inneren Hippie entdeckt und angefangen, mich mit Grateful Dead zu beschäftigen. Diese vielleicht amerikanischste aller Bands hat sich in den 30 Jahren ihres Bestehens vor allem durch ihre legendären Livekonzerte einen Kult-Status erspielt – und zwar völlig zurecht! Viele ihrer 2300 Konzerte wurden aufgezeichnet und es macht unglaublich Spaß, sich in den psychedelisch-improvisierten Jams zu verlieren, die die Band dort mit einer wahnsinnigen Spielfreude aus ihren Songs entwickelt. Die 13 Studio-Alben sind dagegen zum größten Teil eher langweilig. Mit zwei riesigen Ausnahmen: „Workingsman’s Dead“ und „American Beauty“ von 1970 gehören zu den schönsten Americana-Alben aller Zeiten. Und zwar gerade weil die Band hier größtenteils auf Genudel und Experimente verzichtet und die Stücke fast akustisch für sich selbst stehen lassen. Grateful Dead sind eine wahnsinnig vielschichtige Band und ich habe noch lange nicht jede Facette kennengelernt.
Abgewendete Enttäuschung des Jahres
Von Neuendeckungen zu alter Liebe. Seit Muff Potter 2018 wieder aktiv wurden, war diese Reunion ein Wechselbad der Gefühle für mich: Erst die Freude über die Möglichkeit, diese Band, deren Musik ich erst retrospektiv entdecken konnte, endlich live zu sehen. Dann die Ernüchterung, dass das Konzert eher wie eine Pflichtveranstaltung absolviert und Unsicherheiten nur kaschiert wurden. Dann die Spannung, wie wohl der erste neue Song „Was willst du“ klingen wird und die Enttäuschung, als er eher mau ausfiel. Die Skepsis, als ein Album angekündigt wurde und ich die ersten Singles eher mittelprächtig fand. So mittelprächtig, dass ich das 7-Minuten-Monstrum „Nottbeck City Limits“ ignorierte, bis das Albummuster in meinem Redaktions-Postfach lag. Aber als ich es dann in seiner Gesamtheit hörte, machte es plötzlich klick: „Bei aller Liebe“ ist ein Album, dessen Titel ich zum Glück nicht in der Review verwursten musste, denn es macht als Alterswerk einer Band, die immer zwischen Punk und Indie, Herz und Kopf, balanciert hatte, absolut Sinn. Ein Album, das seine Schwächen hat, aber genug Selbstreflektion, neue Ideen und Gänsehautmomente (vgl. für alles drei „Nottbeck City Limits“) mitbringt, um einen dafür zu entschädigen.
Am wenigsten gehörter Song des Jahres
Im Rahmen meiner Recherche zur Hamburger Schule entdeckte ich einige neue Bands für mich. Darunter Die Braut haut ins Auge mit Bernadette Hengst. Sie kannte ich vor allem für ihre Beteiligung an dem nicht ganz straßenverkehrsordnungskonformen Hit „Drogen nehmen und rumfahren“. Bei Die Braut haut ins Auge blieben mir hingegen vor allem die ernsthafteren Songs im Ohr: Für ein paar Wochen lief besonders „Was nehm ich mit (wenn es Krieg gibt)“ in Dauerschleife. Dieser hynotische Song stellt eine unbequeme, aber existenzielle Frage, mit der man sich in Mitteleuropa lange nicht auseinandersetzen musste. Doch nach dem russischen Einmarsch in der Ukraine am 24. Februar und mit den Bildern der von dort flüchtenden Menschen im Kopf wurde es wirklich schwierig für mich, diesen Song zu hören. Denn offensichtlich dachte ich irgendwie, in Europa stirbt man nie. Im Vergleich zu dem Leid, das viele Geflüchtete erlebt haben und immer noch erleben müssen, ist das natürlich eine Kleinigkeit, aber auch eine Erinnerung daran zu denken, dass für viele Menschen auf der ganzen Welt die Frage aus dem Songtitel bittere Realität ist. (Und vielleicht auch für sie zu spenden, z.B. hier bei Mission Lifeline.)
Steffen Schindler
Steffen dankt Nirvana dafür, dass sie die Jugend auf dem Dorf erträglich gemacht haben. Seitdem ist er dem Klang der elektrischen Gitarre verfallen. Mittlerweile studiert er in Berlin Geschichte und Kulturwissenschaft.