Gegen halb acht kamen wir in dem Laden an. Mir fiel wieder einmal auf, was für eine schöne Location das Gloria ist. Ein Theater/Kino aus den 50ern. Wer auch immer die Möglichkeit hat, sollte dort mal eine Veranstaltung besuchen. Traditionell ging es dann erst mal zur Theke, um sich die Kehle anzufeuchten. Auch dort fiel mir wieder etwas ein, was ich schon verdrängt hatte - die Getränkepreise. Aber egal, wir sind ja nicht zum Trinken hier
Pünktlich um acht kam dann auch der Supportact auf die Bühne. Fortuna Ehrenfeld hieß die lokale Band, die Kettcar in Köln unterstützen sollte. Der Beginn des Auftrittes machte schon etwas neugierig. Zunächst betraten nur ein Schlagzeuger und eine Keyboarderin die Bühne. Gefolgt von einem Mann, der locker der Vater der Beiden sein könnte. Er kam in einer Art Schlafanzug auf die Bühne. Um den Hals trug er eine Federboa, in der einen Hand hatte er eine Flasche Wein, in der anderen Pappbecher. Wein und Pappbecher stellte er auf seinen Verstärker und die Show begann. Das erste Stück war eine ruhige Ballade, nur mit Keyboard und Schlagzeug begleitet. Die raue, angenehme Stimme des Sängers rundete das Ganze recht gut ab. Leider sollte es das einzige Lied gewesen sein, was mir gefiel. Es folgten Lieder aus dem Kosmos der NDW, Extrem-Liedermaching, Singer-Songwriter, vorgetragen von einem exzentrischem Sänger. Fortuna Ehrenfeld hatten auch einige Fans im Publikum, die textsicher mitsingen konnten. Mein Fall war es leider nicht. Zu Hause hab ich mir die Platte der Kapelle nochmal angehört und muss zugeben, dass diese mir um einiges besser gefällt als die Live-Darbietung. Für mich war das Ganze irgendwann etwas anstrengend, aber ok, man kann ja nicht alles mögen und Geschmäcker sind verschieden.
Nun ging es in den Umbau, die letzten Soundchecks wurden gemacht, der Banner mit „Ich Vs Wir“ wurde hochgezogen. So langsam stieg die Vorfreude immer mehr. Kurz nach neun wurde dann die Beleuchtung im Saal gelöscht und die Bühne in einen dunkelblau-violettes Licht getaucht. Marcus und Lars Wiebusch betraten die Bühne. Das Keyboard erklang und wie man es in alter Kettcar-Manier kennt, begann man ohne Intro und großem Geschnörkel nur mit der Ansage: "Kettcar - Hamburg". Die Kettcar-Kenner erkannten, was vom Keyboard angestimmt wurde: “Balkon gegenüber“. Nach und nach kamen nun auch die restlichen Bandmitglieder auf die Bühne und stiegen in das Lied mit ein. Das Publikum sang lauthals mit und umjubelte den Opener. Fast im nahtlosen Übergang ging es auch gleich mit einem weiteren „Klassiker“ weiter: „Graceland“. Die Stimmung im Saal wurde noch besser, die Leute tauten immer mehr auf. Nach dem zweiten Song begrüßte Marcus Wiebusch die Menge etwas ausführlicher zu diesem besonderen Abend. Er zählte Bands und Musiker wie Bruce Springsteen auf, die ebenfalls schonmal ein Album komplett gespielt hatten. Leider wurde in dieser Aufzählung eine wichtige deutsche Band vergessen, die Meister im Album durchspielen: Turbostaat. Aber naja, wer will denn kleinlich sein. Die zwei nächsten Lieder wurden als Liebeslieder ankündigt, eines mit Happy End, eines ohne. So beendeten Kettcar ihren „Aufwärmblock“ mit "Rettung" und "48 Stunden". Schon in den ersten vier Liedern hatte sich bei mir eine eine Mischung aus Dauergrinsen und Gänsehaut eingestellt
Diejenigen, die das neue Album schon kennen, wissen, welches Lied nun folgte: „Ankunftshalle“, der Opener, des aktuellen Werkes der Hamburger. Wie ich finde eines der wichtigsten Alben 2017, das zu keinem besseren Zeitpunkt erscheinen konnte. Zu dem Dauergrinsen-Gänsehaut-Gefühl, gesellte sich nach „Ankunftshalle“ ein neuer Affekt, den ich vorher von Kettcar-Lieder noch nicht kannte: Wut. „Wagenburg“ - der Titeltrack des Albums „Ich Vs Wir“. Ich musste an die ganzen Egomanen, Pegida-Arschlöcher und sogenannten „besorgten Bürger“ denken. Kettcar gehen in politische Gefilde, was den Jungs, wie ich finde, sehr gut steht. Weiter ging es im Set, wie auch schon im Album, mit „Benzin und Kartoffelchips“ gefolgt von der Single-Auskopplung „Sommer '89“ - ein zeitloses Lied über Flucht. Als ich das Lied zum ersten Mal auf Platte hörte, dachte ich mir: „Puh, schwierig das Teil zu veröffentlichen“ - besteht es doch vorwiegend nur aus Sprechgesang. Doch genauso wie schon im Radio, funktioniert das Lied auch live. Und da war sie auch wieder, die Gänsehaut und die Wut auf die Gesellschaft, die den Flüchtlingen die Einreise verwehrt.
„Die Straßen unseres Viertels“ mit einem meiner Lieblingszitate vom aktuellen Album: „Burnout vom Yoga“ wurde gefolgt vor einer Anekdote von Reimer Bustorff zu dem Lied „Auf den billigen Plätzen“, sehr unterhaltsam. (Der eine oder andere kennt vielleicht dieses Gefühl sich teure Karten gekauft zu haben um dann zu sehen, wie sich die Leute von den billigen Plätzen vor die Bühne schleichen.) Nach „Trostbrücke Süd“ dann ein weiteres Highlight für mich: „Mannschaftsaufstellung“. Gänsehaut, wie lautstark das Publikum mitgesungen hat. Die politische Seite von Kettcar kommt sehr gut beim Publikum an. Mit einem Augenzwinkern beschrieb Wiebusch die Band während des Auftrittes mit den Worten „Wir sind doch jetzt Politpunker“.
Zu den drei nun folgenden Liedern hatte ich zu diesem Zeitpunkt auf Platte noch keinen wirklichen Zugang gefunden. Dies änderte sich aber nun durch die Live-Atmosphäre und den dazugehörigen Ansagen seitens Kettcar. „Den Revolver entsichern“ beendete den Album-Block, Kettcar verabschiedeten sich, das Publikum klatschte lautstark und verlangte Zugaben.
Getreu dem Motto „Oldie but Goldie“ erfüllten Kettcar den Wunsch nach mehr und läuteten die Zugabe mit „Ich danke der Academy" ein. Jetzt flippten die ersten Reihen komplett aus, es wurde noch mehr getanzt und gesprungen, als es schon zuvor der Fall war. Schön anzusehen und auch anzuhören, denn das Publikum wurde im Gesang noch lauter. Während „Kein Außen mehr“ und „Money Left To Burn“ schwelgte ich ein bisschen in Erinnerung - mein erstes Kettcarkonzert mit meiner Schwester, die Lagerfeuermomente mit der Akustikgitarre und die leider verworfene Möglichkeit, zum Videodreh von „Deiche“ zu fahren. Kaum hatte ich diesen Gedanken beendet, ertönte es auch schon: „Deiche“ - das Dauergrinsen machte sich wieder in meinem Gesicht breit.
Kettcar gingen ein weiteres Mal von der Bühne, doch sie kamen noch einmal für eine letzte Zugabe hinaus. Wiebusch kündigte das folgende Lied mit einem Bernd-Begemann-Zitat an: „In Städten mit Häfen haben die Menschen noch Hoffnung.“ Damit leitete er das letzte Lied des Abends ein: „Landungsbrücken raus“. Schade eigentlich, dass es schon zu Ende ist, aber dennoch ein guter Song, um so einen besonderen Abend abzuschließen.
Das Konzert hatte alles was man sich von einem guten Abend wünscht: tanzende Menschen, gute Musik, die angenehme, fesselnde Stimme von Marcus Wiebusch, Witz, Gänsehautmomente und ein dezentes Dauergrinsen. Kurz: Rundum gelungen und wieder eine unvergessene Erinnerung mehr in meinem Kopf mit dem Wunsch nach Wiederholung.